Was ist Toleranz?

Liebe JOWAX-Leser,

 am 12. April werden neben anderen Workshops auch einige zum Thema Toleranz stattfinden. Das habe ich zum Anlass genommen, mir ein paar Gedanken über diesen Begriff zu machen. Es ist zugleich ein Versuch und ein Aufruf. Ein Versuch ist es deswegen, weil ich dem Begriff, der nicht nur Anhänger, sondern auch Kritiker findet, auf die Schliche kommen möchte. Ein Aufruf ist es deswegen, weil ich jeden, der es will, dazu anhalten möchte, die Ergebnisse meines Versuches selbst im Alltag zu prüfen. Meine Vorschläge sind natürlich für alle zur Diskussion freigestellt.

 

Was heißt „Toleranz“? Ein Versuch.

I.

Toleranz ist ein schicker Begriff. Wer sich als einen „toleranten Menschen“ bezeichnet, der will damit zeigen, dass er weltoffen und frei von Vorurteilen ist, alle Kulturen und Menschen dieser Erde liebt und kritiklos bereit für neue Erfahrungen ist – dass er also mit offenen Armen durch die Welt geht und bereit ist, diese ganze Welt in sich aufzusaugen – STOPP!!!

Schon hier hat sich der erste Bestimmungsversuch des Toleranten selbst zu einem Vorurteil verfahren, das zudem noch einen gravierenden Selbstwiderspruch in sich trägt. Denken wir die obige Vorstellung einmal zu Ende: Einer, der mit offenen Armen die ganze Welt in sich selbst aufnimmt, der also Interesse für einfach ALLES haben möchte, wird sich bald selbst zerstört haben, weil er schnell nicht mehr allem gerecht werden kann: Die Liebe zu Formel 1 und Bildender Kunst, zum örtlichen Sportverein und dicken Büchern, zu Abenteuerurlaub und Chillen am Strand kann sich zwar durchaus in ein- und demselben Menschen finden, lässt sich aber für diesen einen Menschen so nicht unendlich fortsetzen. Jeder muss auswählen, welche Angebote dieses kolossalen Ramschladens namens „Welt“ er für sich selbst verbucht und toleriert.

Nächster Versuch. Ein Fremdwörterbuch verrät uns: Der Begriff „Toleranz“ kommt aus dem Lateinischen. Dort gibt es das Verb tolerare, das drei Grundbedeutungen hat: 1. dulden, ertragen, aushalten; 2. etwas mühsam erhalten oder ernähren; 3. etwas erträglich machen. Der Römer hatte also überhaupt nichts mit Weltoffenheit und totaler Menschenliebe an seinem römischen Hut, wenn er das Verb tolerare in seinen Satz einbaute. Eher das Gegenteil.

Mir fallen drei Dinge auf, wenn ich mir diese Bedeutungen anschaue:

  1. Nach außen hin besitzt jedes dieser Verben einen Bezug zu einer Grenze, nämlich einer Grenze derErträglichkeit. Wenn diese Grenze überschritten ist, dann kann ich das Geduldete nicht mehr dulden, ertragen oder aushalten – dann wird es unerträglich.
  2. Nach innen hin besitzt jedes dieser Verben auch eine Gefühlskomponente: Es fälltschwer, etwas zu dulden, auszuhalten oder zu ertragen. Es muss schwerfallen, weil ansonsten der Tatbestand des „Aushaltens“ oder „Ertragens“ nicht erfüllt wäre. Man kann nicht ohne Widerspruch behaupten: „Ich ertrage Hunger mühelos“ oder „Ich dulde problemlos ihre schlechte Laune“. Müheloses „Ertragen“ ist kein „Ertragen“, sondern ein „Hinnehmen“ oder „Akzeptieren“.
  3. Diese Gefühlskomponente lässt sich auch in eine Wissenskomponente umwandeln: Es fällt mir schwer, dies oder das zu dulden, weil ich weiß, dass ich damit nicht einverstanden bin. Und dafür kann ich ganz konkrete Gründe vorbringen. Ein Beispiel: „Ich dulde = ich lasse es geschehen, aber ich bin damit nicht ganz einverstanden, dass Lisa immer die Hausaufgaben von mir abschreibt, weil ich mir die Arbeit gemacht habe und sie die Zeit anders nutzen konnte.“ Wir können mit ganz konkreten Fakten begründen, warum wir etwas tolerieren oder nicht tolerieren.

Bei der Durchsicht der obigen Verben fällt noch ein vierter Punkt auf: Das Geduldete betrifft den Duldenden existenziell. Das heißt, es rüttelt an den Grundfesten seines eigenen, subjektiv erfahrenen Lebens: Hunger, die schlechte Laune meiner Mitmenschen, die Angst, ausgenutzt zu werden oder Ekel, etwa vor Spinnen – all das kann meine ganz persönliche Existenz ganz erheblich stören und ist Gegenstand meiner Toleranz oder Intoleranz.

Daher kann z. B. ein hier geborener 18-Jähriger aus dieser ostdeutschen Provinz gar nicht so einfach behaupten, er lehne das Kopftuch als Zeichen muslimischen Glaubens ab. Denn in der ostdeutschen Provinz sind weder von einem Kopftuch noch vom muslimischen Glauben ernsthafte Bedrohungen seiner Existenz zu erwarten – weder konkrete noch abstrakte Bedrohungen.

Der Tolerante hat es also immer mit der Grenze zur Erträglichkeit zu tun: Er duldet etwas, aber nicht uneingeschränkt. Er kann seine Duldung von zweierlei Einschränkungen abhängig machen:

  1. Er toleriert das Geduldete auf eine gewisse Zeit.
  2. Er toleriert das Geduldete unter bestimmten Bedingungen.

Ich kann also sagen:

  1. „Lisa, ich toleriere es noch für diese Woche, dass du alle Hausaufgaben von mir abschreibst.“

oder

  1. „Lisa, wenn (= unter den Bedingungen, dass) deine Mama im Krankenhaus liegt und du für deinen kleinen Bruder sorgen musst, ist es okay, dass du alle Hausaufgaben von mir abschreibst.“

Für unsere Begriffsklärung ist der erste Fall nicht so interessant wie der zweite: Die Bedingungen geben uns nämlich einen Hinweis auf den Verlauf der Grenze, ab der das Geduldete unerträglich oder zur Belastung wird. Ab dieser Grenze wird meine Toleranz zu meiner Intoleranz. Und es lässt sich bereits ein Zwischenergebnis festhalten: Etwas aktiv und bewusst zu tolerieren – ist Arbeit: Es ist Denkarbeit. Denn der Tolerante muss sich über die Bedingungen klar sein, unter denen er das Geduldete duldet.

Aber hier zwingt sich schon die nächste Frage auf: Was passiert mit meiner Toleranz, wenn diese Grenze überschritten ist? Lisas Mama ist gesund aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und womöglich ist auch die Wochenfrist vorüber. Aber Lisa schreibt weiter von mir ab. Ich kann Konsequenzen ziehen und Lisa damit meine Intoleranz in dieser einen, ganz bestimmten Frage zeigen. Bin ich dadurch ein intoleranter Mensch geworden?

Die Antwort lautet: Nein. Denn Toleranz ist eine Einstellung, mit der wir in einzelnen, alltäglichen Situationen unser Verhältnis zur Grenze der Erträglichkeit ausloten. Insofern ist jeder von uns fähig zu Toleranz. Sind wir so „eingestellt“, dann fragen wir uns: In welche Richtung bezüglich dieser Grenze müssen wir uns bewegen?

 

  • Bewege ich mich in meinem Verhalten auf sie zu oder gar über sie hinweg?
→ Dann laufe ich Gefahr, mich in den Bereich des Unerträglichen oder der Überlastung zu begeben. Das ist der Bereich des Nicht-mehr-Tolerierens, der Intoleranz.
  • Bewege ich mich an ihr entlang?
→ Dann befinde ich mich im Bereich des Erträglichen, der eine gewisse Belastung für mich bedeutet. Hier ist aber auch gewährleistet, dass ich mich gedanklich mit dem Geduldeten befasse und auseinandersetze. Das ist der Bereich des Tolerierens.
  • Bewege ich mich von ihr weg?
→ Dann begebe ich mich in einen Bereich, in dem ich mich von der Frage nach der Duldung ent-laste oder entledige. Das ist der Bereich der Gleichgültigkeit.

 

Toleranz als Einstellung ist also die mittlere Einstellung zwischen zwei anderen Einstellungen. Hierfür entlehne ich die Mesotes-Lehre, eine berühmte Denkfigur des antiken Philosophen Aristoteles. Der würde sagen: Toleranz ist die Mitte zwischen zu wenig Duldung (Intoleranz) und zu viel Duldung (Gleichgültigkeit). Er würde außerdem sagen, dass die beiden Extreme lasterhaft sind, während die Mitte die nützliche, kluge, also gute Einstellung ist. Soweit würde ich nicht gehen.

Intoleranz an sich ist nichts Schlechtes. Allerdings muss der Intolerante angeben können, woher seine Intoleranz rührt. Er muss also die Gründe und Bedingungen offenlegen können, die auf seine Grenze der Erträglichkeit hinweisen. Damit muss er selbst den Ort seiner Toleranz in einer bestimmten Frage zumindest kennen.

Intoleranz ist dann schlecht, wenn diese Konkretisierung der Grenze fehlt oder wenn die formulierten Bedingungen nicht nachvollziehbar oder nicht verallgemeinerungsfähig sind. Beispiele hierfür finden wir in den aktuellen Diskussionen um die vermeintliche „Islamisierung“ oder die „Flüchtlingswelle“ genügend. Zum Problem, diese Bedingungen aufzufinden, komme ich im zweiten Teil.

Gleichgültigkeit ist aus dieser Perspektive heraus die (noch) schlechtere Alternative: „Ist mir egal!“ ist ein gern geäußerter Satz. Zwar hat Gleichgültigkeit eine entlastende Funktion: Wem ein Problem egal ist, der hat kein Problem mit diesem Problem. Wer gleichgültig ist, überlässt die Lösung eines Problems anderen. Doch er nimmt sich selbst damit auch etwas weg, nämlich die Möglichkeit, eine eigene Deutung zu finden oder das Problem in sein Leben einzuordnen. Wem etwas egal ist, der überlässt die Deutungshoheit den anderen. Und damit legt er auch die Verantwortung für die Folgen in die Hände der anderen – mit dem Problem, dass er sie anschließend nicht für diejenigen Folgen verantwortlich machen kann, die für ihn selbst schlecht sind. Wenn ich Lisa weiterhin abschreiben lasse, obwohl sie meine Bedingungen nicht mehr erfüllt und irgendwann vom Lehrer erwischt werde, kann ich Lisa nicht für die Konsequenzen verantwortlich machen. Gleichgültigkeit heißt also: Die Verantwortung für mein eigenes Leben in die Hände der anderen zu legen.

Wir können als Zwischenergebnisse also festhalten: Toleranz hat etwas mit der Grenze der Erträglichkeit zu tun. Diese Grenze lege ich selbst fest. Toleranz rührt an meine persönliche Existenz und an mein Selbstverständnis. Toleranz ist eine Einstellung, die sich zwischen Intoleranz und Gleichgültigkeit befindet.

 

Fortsetzung folgt …

 

Autor: Herr Sachs

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