„Und wie gehts voran mit den Bau?“ – eine Frage, die womöglich ein Baulleiter auf der Baustelle alltäglich seinen Angestellten stellt. Doch was bedeutet diese Frage zu Zeiten des 2. Weltkrieges in einem Konzentrationslages. Paula Herhammer und Katja Pohl verfassten eine Geschichte, in der sie ihre Gedanken zum Genozid während ihres Auftenhaltes in Auschwitz letzten Frühjahr aufgreifen. Eine alltägliche Frage erhält plötzlich eine andere unfassbare Dimension:
Ich spürte die kalte Hand meines Vaters auf meiner Schulter. Seine Stimme war ruhig und betont, als er mir die verschiedenen Gebäude erklärte. „Und hier, mein lieber Junge, wird unser Vaterland gesäubert.“ Er lachte ein wenig boshaft. Erst später sollte ich erfahren, was es mit dieser „Säuberung“ auf sich hatte.
Nach einiger Zeit trafen wir auf eine Gruppe von abgemagerten , schmutzigen Männern, die alle einen gestreiften Anzug trugen. Hinter der Gruppe lief einer von Vaters Soldaten. Ich erschrak, als er plötzlich anfing zu schreien: „Macht schneller, ihr faulen Hunde!“ Als er uns erblickte begrüßte er uns mit ausgestrecktem Arm und den beiden Worten, die ich schon von Kindheitstagen an als Gruß verwenden sollte. „Und wie geht’s voran mit dem Bau?“, fragte Vater den Soldaten. „Bis jetzt sehr gut, Herr Kommandant…“ Während sich die beiden unterhielten beobachtete ich einen Jungen, nicht viel älter als ich, der das Schlusslicht der Gruppe bildete. Er trug allein einen schweren Holzbalken und drohte darunter zusammenzubrechen. Als er an mir vorbei ging, trafen sich unsere Blicke, doch er wendete seinen schnell ab und schaute wieder zu Boden. Er ging noch ein paar Schritte, bis ihm der Holzbalken aus den Händen fiel und er mit ihm zu Boden sank.
Schnell rannte ich zu ihm hin und wollte ihm zu Hilfe kommen, doch der Junge duckte sich und nahm schützend die Hände über den Kopf zusammen. Ich fragte ihn, ob alles in Ordnung sei, doch er guckte mich nur ungläubig an. Gerade als ich ihm die Hand reichen wollte, kam der Soldat angerannt, stieß mich zur Seite und fing an auf den Jungen einzutreten. „Was fällt dir ein, du dreckige Judensau?!“ Vater kam dem Soldaten hinterher und sagte zu mir in einem schroffen Ton: „Sie haben unsere Hilfe nicht verdient. Sie sind nur eine Schande für unser Vaterland!“
Beim Abendessen war Vater so wie immer und sprach nicht über den Vorfall im Lager. Abends im Bett dachte ich noch immer über den Jungen und die Handlung von Vaters Soldaten nach. Ich beschloss, am nächsten Tag den Jungen erneut aufzusuchen.
Als ich im Lager erschien, erwartete mich schon Vater und der Soldat von gestern. Er wurde mir als Oberleutnant Schindler vorgestellt. „Heute sollst du meine Aufgabe übernehmen.“, sagte er im ernsten Tonfall zu mir. Nachdem sich Vater von uns verabschiedet hatte, gingen der Oberleutnant und ich zu einer Gruppe von Häftlingen. Bei genauerem Hinsehen entdeckte ich darunter den Jungen von gestern. „Du wirst heute dieses Dreckspack beaufsichtigen.“ , sagte Schindler und verabschiedete sich. Nun war ich mit der Gruppe alleine. Als der Oberleutnant weit genug entfernt war, nutzte ich die Gelegenheit und sprach den Jungen von gestern an. „Wie geht es dir?“ , fragte ich ihn. Dabei sah ich, dass er ein blaues Auge hatte. „Es geht schon…“, antwortete er schüchtern. „Das mit gestern tut mir leid, wie du behandelt wurdest.“ „Das ist nichts neues. Das müssen wir oft ertragen.“ Dieser Satz ließ ihn noch ein wenig trauriger als sonst aussehen, also versuchte ich ein wenig abzulenken. „Ich bin Albrecht, und wie ist dein Name?“ „Ich heiße Aa…“ Wir schreckten beide auf, als auf einmal Schindlers Stimme das Gespräch unterbrach. „Du sollst arbeiten und nicht quatschen, du kleiner Jude! Für dich fällt heute das Abendbrot aus!“ Dann drehte er sich zu mir und sagte schroff: „Dein Vater verlangt nach dir.“
Ich betrat das Arbeitszimmer meines Vaters. Er saß hinter einem gewaltigen dunklen Holztisch mit allerhand Akten darauf. „Gut, dass du da bist, mein Junge. Ich hab eine Aufgabe für dich. Oberleutnant Schindler werden wichtigere Aufgaben zuteil und du wirst seine Gruppe für die letzten paar Tage übernehmen. „Wieso für die letzten paar Tage?“, fragte ich. „Das wirst du sehen, wenn es so weit ist.“
Als ich nach dem Abendessen an der Küche vorbeiging, erhaschte ich einen Blick auf das Dienstmädchen, die gerade dabei war die Essensreste wegzuschmeißen. Da kam mir eine Idee. Ich ging in die Küche und sagte: „Marie, wären sie so freundlich mir ein Bad einzulassen?“ „Ja sofort, wenn ich die Küche aufgeräumt habe.“ „Ach lassen sie nur, ich mach das schon.“ Marie lächelte dankbar und verließ die Küche. Ich packte etwas Obst und ein belegtes Brot zusammen. Danach machte ich mich daran die Küche aufzuräumen.
Am Tag darauf beaufsichtige ich abermals den Bau der neuen Baracke. Es fehlte nur noch der letzten Schliff. Ich ging zu dem Jungen, gab ihm heimlich das Essen und sagte: „Es tut mir Leid, dass du wegen mir gestern Abend hungern musstest. Ich hoffe, das macht es wieder gut.“ Der Junge freute sich sichtlich über das Essen. „Ich heiße übrigens Aaron.“ Ich fragte Aaron, ob seine Familie auch hier sei. Er antwortete: „Ich bin mit meinen Eltern hergekommen. Doch sie sind schon seit einigen Wochen verschwunden.“ Als er aufgegessen hatte, fügte er hinzu: „Aber ich habe auch noch eine Verlobte in Krakau und sie ist schwanger.“ Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. „Meinst du, ich werde sie wiedersehen?“
Als ich am Abend nach Hause kam, teilte mir Marie mit, dass Vater mich in seinem Arbeitszimmer sprechen wollte. „Guten Abend, Vater. Du wolltest mich sprechen?“ „Ich wollte, dass du mir Bericht erstattest, wie weit man mit der Baracke ist.“ „Wir sind heute fertig geworden, Vater.“ „Sehr gut, dann brauchen wir sie ja jetzt nicht mehr.“ „Meinst du, sie dürfen gehen?“ Vater lachte laut los. „Nein, Albrecht. Ganz im Gegenteil. Solchen Abschaum braucht unser Land nicht. Du wirst sie morgen in die Gaskammer führen, erzählst ihnen jedoch, dass sie nur duschen gehen.“ „Aber Vater, …“ „Keine Widerrede, junger Mann! Du tust, was ich dir sage!“
In der Nacht konnte ich nicht schlafen. So viele Dinge gingen mir durch den Kopf. Doch vor allem Aaron, der mit trauriger Stimme fragt: „Werde ich sie wiedersehen?“ Ich dachte an seine Frau, die auf ihn wartet. Ich dachte an das Kind, das ohne Vater aufwachsen würde. Wie ich, ohne Mutter. Und es war nie einfach. Ich dachte darüber nach, wie ich ihm helfen könnte. Ich dachte auch darüber nach, wie grausam Menschen sein können. Ich dachte an Oberleutnant Schindler, wie er auf Aaron eintritt und an Vater, wie er mich ohne mit der Wimper zu zucken aufgefordert hat Menschen umzubringen. Was machen diese Menschen anders, dass sie es verdient haben wie unnütze, niedere Lebewesen behandelt zu werden? Was ist das bloß für eine Gesellschaft in der wir leben? Und plötzlich hatte ich eine Idee…
Dieser Morgen sollte der letzte für mich sein. Vater und ich gingen zusammen zu den Baracken und er erklärte mir, wie der heutige Tag ablaufen sollte. „Ich bin stolz auf dich, mein Sohn. Ich wusste, dass du noch zur Vernunft kommst.“ Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und verabschiedete sich.
Als es dann so weit war, ging ich schnellen Schrittes auf die Baracken zu. Dort erwartet mich bereits zwei weitere Soldaten, die mir behilflich sein sollten. Wir forderten die Häftlinge auf uns zu folgen. „Los, bewegt euch. Heute werdet ihr endlich mal geduscht.“ Inmitten der vielen Menschen sah ich Aaron. Keiner von ihnen ahnte auch nur, dass sie gerade ihre letzten Schritte taten.
Vor der Gaskammer angekommen befahlen wir ihnen, ihre Kleider in dem Vorraum abzulegen. Ich steuerte auf Aaron zu und fing auch an mich auszuziehen. „Was machst du da?“ , fragte er mich. „Nimm meine Sachen und zieh sie schnell an. Ich schenke dir die Freiheit. Geh zu deiner Familie. Sie brauchen dich.“ Ohne zu zögern nahm er meine Sachen und zog sie an. „Warum machst du das?“ , fragte er mich immer noch etwas verwirrt. „Du hast da draußen eine Frau und ein Kind, die auf dich warten und dich brauchen. Ich habe hier nichts zu verlieren.“
Nun sollten wir uns alle in die Duschräume begeben. Aaron wurde aufgefordert die Tür zu schließen. Er zögerte kurz, doch nachdem ich ihm kurz zunickte, schloss er langsam die Tür.
Das letzte was ich sah, war sein dankbares Lächeln.